Die Infineon Technologies AG ist einer der weltweit größten Halbleiterhersteller und Marktführer bei Automobil- und Leistungshalbleitern.
Die Halbleiterindustrie zeichnet sich im Allgemeinen durch ihre Kapitalintensität und hohe Volatilität aus. Die Nachfrage nach Halbleitern ist unbeständig und in hohem Maße von Innovationszyklen abhängig. Diese schwankende Nachfrage macht die Zulieferkette daher besonders anfällig für den Bullwhip-Effekt.
Die Supply-Chain-Ingenieure bei Infineon nutzen AnyLogic schon seit vielen Jahren, weil sich die Simulation als ein effektives Werkzeug zur Lösung von Produktionsbedarfs- und Lieferkettenproblemen erwiesen hatte. Bereits auf der AnyLogic Conference 2012 berichteten sie über ihr Projekt zur Erforschung des Bullwhip-Effekts in ihrem Marktsegment. Damals kombinierten sie agentenbasierte und ereignisorientierter Modellierungsansätze, um ein Modell ihrer Multi-Tier-Halbleiter-Lieferkette zu erstellen. Dank dieses Supply-Chain-Modells konnten sie sich besser an Nachfrageschwankungen anpassen und den Bullwhip-Effekt reduzieren.
Problemstellung
Die Probleme der volatilen Nachfrage und des damit verbundenen Bullwhip-Effekts sind heute noch größer als damals. Während der COVID-19-Pandemie ging die Nachfrage an Automobilen deutlich zurück, was zu einem zu hohen Lagerbestand führte. Die Pkw-Nachfrage sank, weil die Menschen im Homeoffice arbeiteten und weniger pendelten. Als sich später der Markt wieder erholte, fiel diese steigende Nachfrage mit einem weltweiten Mangel an Computer-Mikrochips zusammen.
In der untenstehenden Grafik sehen Sie die Korrelation zwischen Weltwirtschaftswachstum und dem Wachstum des Halbleitermarktes. In den Jahren 2008–2009 fiel die Nachfrage nach Halbleitern aufgrund der Weltwirtschaftskrise und des damit verbundenen Konjunkturrückgangs drastisch. Doch 2009–2010 erholte sich die Wirtschaft schnell wieder, was sich unmittelbar auf den Halbleitermarkt auswirkte. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Bullwhip-Effekt wirkt und warum er ein großes Problem für die gesamte Branche darstellt.
2020, während der COVID-Krise, folgte die Entwicklung des Halbleitermarktes nicht länger dem Wachstum der Weltwirtschaft und änderte sich weniger dramatisch. Dennoch herrschte nach wie vor eine hohe Volatilität. Eine Reduzierung des Bullwhip-Effekts birgt daher weiterhin ein erhebliches Potenzial zur Rentabilitätssteigerung.
Lösung
Im Gegensatz zu dem 2012 durchgeführten Projekt entschieden sich die Supply-Chain-Ingenieure von Infineon dieses Mal für die Nutzung der Systemdynamik, um den Bullwhip-Effekt zu untersuchen. Ziel war es, die neuen Ergebnisse mit denen aus der Studie von 2012 zu vergleichen.
Anders ausgedrückt: Die Ingenieure wollten das gleiche Problem aus einem etwas anderen Blickwinkel betrachten. Die Systemdynamik wird vor allem auf der Makroebene eingesetzt, wo allgemeine Muster wichtiger sind als Details. Die Verwendung systemdynamischer Werkzeuge hilft bei der Anwendung des Systemgedankens, um Rückkopplungsschleifen zu identifizieren, übergeordnete Probleme zu verstehen und ihre Symptome zu untersuchen.
Dabei verfolgten die Experten drei grundlegende Ziele:
- Die Simulation der Nachfrageerholung in der Automobil-Halbleiter-Lieferkette nach der COVID-19-Krise.
- Verständnis der Auswirkungen des Bullwhip-Effekts für verschiedene Erholungsszenarien des Endverbrauchermarktes.
- Bereitstellung eines Instruments zur Bewertung von Kooperationsbemühungen und -gewohnheiten.
Um ihre Ziele zu erreichen, mussten die Experten vier wichtige Aufgaben erfüllen:
- Identifikation von Szenarien zur Erholung der Nachfrage auf dem Endverbrauchermarkt: U-Form, V-Form, L-Form usw.
- Erstellung eines systemdynamischen Lieferkettenmodells in AnyLogic.
- Test des Modells anhand historischer Daten.
- Sensitivitätsanalyse, um festzustellen, welche Parameter den größten Einfluss auf die Ergebnisse haben.
Die Gesamtstruktur der Halbleiter-Lieferkette ist in der folgenden Abbildung zu sehen:
Von rechts nach links enthält die Struktur vier Stufen (Echelons), wobei jeder Echelon ein Mitglied der Lieferkette repräsentiert:
- Echelon 1: OEMs (Originalgerätehersteller)
- Echelon 2: Lieferant (Tier-1)
- Echelon 3: Sublieferant (Tier-2)
- Echelon 4: Halbleiterhersteller
Alle Echelons befinden sich auf einer global aggregierten Ebene, d. h. „OEM“ repräsentiert alle Erstausrüster auf globaler Ebene, „Halbleiterhersteller“ beschreiben alle globalen Hersteller von Halbleitern und so weiter. Wie in der Abbildung oben dargestellt, verläuft der Informationsfluss in dieser Lieferkette flussaufwärts, während der Materialfluss der Produkte flussabwärts verläuft.
Die vier Echelons wurden in der Simulation eigens modelliert. Die Eingaben jedes Echelons durchläuft mehrere Kontrollschleifen, bevor sie an den nächsten Echelon ausgegeben werden. Die verschiedenen Echelons haben jeweils unterschiedliche Parameter für dieselben Komponenten, einschließlich Prognosen (Forecasts), Kapazität, Work-in-Process, Lagerbestand, Rückstand und Supply-Line-Management.
Dieses Lieferkettenmodell geht ferner davon aus, dass die Vorräte der Halbleiterlieferanten unendlich sind, da sie von den Siliziumlieferanten garantiert werden.
Das Grundgerüst der Systemdynamik bestand für jeden Echelon aus mehreren Wirkungsketten:
Als Eingabedaten für das Lieferkettenmodell nutzten die Ingenieure historische Daten. Dies diente zur Modellüberprüfung und für Szenariotests.
Die Pkw-Verkäufe gingen während der Krise stark zurück, während der Anteil der Elektroautos allmählich wuchs. Beide Faktoren beeinflussten die Nachfrage auf dem Halbleitermarkt erheblich.
Das erstellte End-to-end-Lieferkettenmodell verfügt zudem über ein Simulations-Dashboard für die Auswahl verschiedener Szenarien und die Variation einer breiten Palette unterschiedlicher Parameter bei der Durchführung von Szenarioanalysen:
Ergebnis
Die Ergebnisse des Lieferkettenmodells zeigen, wie sich der Nachfragerückgang auf andere Parameter auswirkt.
Nach dem Zusammenbruch der Halbleiternachfrage während der Pandemie erholten sich die Aufträge aufgrund der folgenden Nachfragewiederbelebung am Endverbrauchermarkt schnell wieder.
- Die Ergebnisse des Simulationsmodells zeigen eine deutliche Verstärkung der Entwicklung auf dem Pkw-Endverbrauchermarkt. Je weiter vorgelagert in der Lieferkette, desto stärker ist der Rückgang des empfangenen Nachfragesignals während der Krise.
- Die Erholungsphase der Endverbrauchernachfrage zeigt analog eine deutliche Verstärkung des Nachfrageanstiegs. Die eingehende Nachfrage für die Halbleiterebene übersteigt die Nachfrage auf dem Endverbrauchermarkt um etwa 40 % und ist damit doppelt so hoch wie bei Tier-2.
Die Wiederherstellung der Bestände ist aufgrund der langen Zykluszeiten und der hohen Nachfrage während des Aufschwungs eine Herausforderung und führt zu einer Halbleiterknappheit.
- Die Lagerbestände der Halbleiterhersteller steigen durch die Auftragsstornierungen nachgelagerten Lieferkettenpartner. Die Lagerhaltung der Halbleiterhersteller kann aufgrund der langen Zykluszeiten nicht flexibel gestaltet werden.
- In der Erholungsphase der Krise sind die Lagerbestände der Halbleiterhersteller unzureichend. Aufgrund der Kapazitätsbeschränkung und der hohen Nachfrage auf den nachgelagerten Echelons erholt sich der Lagerbestand nur langsam.
Die Sensitivitätsanalyse für unterschiedliche Echelons und Parameter birgt ein hohes Potenzial zur Leistungssteigerung der gesamten Lieferkette. Verschiedene Verhaltensparameter zeigen unterschiedliche Einflüsse auf den Auftragsbestand bei Tier-2-Lieferanten und damit auf die Chipknappheit in der gesamten Lieferkette. Ein aktueller und zeitnaher Informationsfluss reduziert dabei den Rückstand.
Als Ergebnis der Tests und Analysen gewannen die Supply Chain Engineers von Infineon mehrere Erkenntnisse:
- Die Amplitude der Nachfrageverstärkung und -schwankung in der Lieferkette variiert je nach Erholungsszenario und Verhaltensparametern der einzelnen Echelons.
- Die vorgelagerten Mitglieder der Lieferkette leiden am meisten unter der Unterbrechung und die Wiederherstellung des Gleichgewichts kann länger dauern. Die Reaktion bei der Bewältigung eines Nachfragerückgangs wirkt sich auf das Vermögen aus, die sich erholende Nachfrage zu bewältigen.
- Zusammenarbeit und Vertrauen sind wichtig, um den Bullwhip-Effekt zu meistern. Kommunikation in Bezug auf Bestellverhalten, Bestandsabdeckung und Vorlaufzeit kann die Situation nachhaltig verbessern.
- Bei Infineon wurde ein Konzept zur Verbesserung der VMI-Kennzahlen entwickelt, um einen besseren Einblick in die Downstream/Upstream-Ursachen zu erhalten.
Abdelgafar Ismail und Hans Ehm von Infineon stellten die Fallstudie auf der AnyLogic Conference 2021 vor.
Die Präsentation ist als PDF verfügbar (in Englisch). Zum Vergleich mit anderen Modellierungstechniken siehe die Infineon-Studie zur Halbleiter-Lieferkette von 2012.