Überblick: Digitale Zwillinge im Gesundheitswesen
Digitale Zwillinge finden derzeit in allen Branchen rasche Verbreitung – und das Gesundheitswesen ist da keine Ausnahme. Digitale Zwillinge können sowohl auf kleinster Ebene, etwa um die Qualität der Patientenbehandlung zu verbessern, als auch auf der Makroebene eingesetzt werden, um den Klinikbetrieb insgesamt zu optimieren.
Ein Digitaler Zwilling eines Krankenhauses spiegelt die Einrichtung in einer sicheren, virtuelle Umgebung wider, in der Veränderungen dynamisch getestet werden können. Mit anderen Worten: Was-wäre-wenn-Szenarien lassen sich risikofrei testen und die Auswirkungen auf die Performance der Klinik unmittelbar beobachten, um seine operative Strategie, Ressourcenkapazitäten, Personalausstattung und Pflegeleistungen zu beurteilen.
Problemstellung: Wie lassen sich Krankenhausbetrieb, Patientenerfahrung und Ressourcenverteilung verbessern?
Decision Lab ist ein Experte auf den Gebieten der mathematischen Modellierung, Optimierung und Simulation sowie der Datenwissenschaften und künstlichen Intelligenz. Es setzt diese Technologien ein, um Geschäftsprobleme zu lösen. Im Rahmen eines Projektes im Gesundheitswesen wurde das Unternehmen beauftragt, einen simulationsbasierten Digitalen Zwilling von zwei Krankenhäusern des NHS Foundation Trusts zu entwickeln.
Der NHS Foundation Trust ist eine Einrichtung des National Health Service of England and Wales, die i. d. R. entweder ein geografisches Gebiet versorgt oder spezielle Fachbereiche abdeckt.
Das Ziel dieses gemeinsamen Projektes war es, einen Digitalen Zwilling zu entwickeln, mit dessen Hilfe Was-wäre-wenn-Szenarien für potenzielle Verbesserungen des Krankenhausbetriebs, der Patientenerfahrung und der Ressourcenallokation untersucht werden können. Die Hauptaufgabe bestand dabei darin, den gesamten Aufenthalt von nicht-elektiven (Notfällen) und elektiven (geplanten) Patienten zu simulieren – von der Aufnahme bis zur Entlassung.
Lösung: Aufbau eines Simulationsmodells als Grundlage eines Digitalen Zwillings eines Krankenhauses
Die AnyLogic-Simulationssoftware ermöglicht nahezu unbegrenzte Anpassungsmöglichkeiten, da sie die drei wichtigsten Simulationsmodellierungsansätze sowohl einzeln als auch in Kombination unterstützen kann. So können die Entwickler reale Systeme von beliebiger Komplexität und Detailtiefe von der Patienten- bis zur Krankenhausebene modellieren.
In diesem Projekt wurde ein ereignisdiskreter Simulationsansatz verwendet, um die Prozesse in und zwischen den Stationen zu beschreiben und mittels einer agentenbasierte Methode das Patientenverhalten zu modellieren.
Ein in AnyLogic erstelltes Simulationsmodell von Decision Lab diente als Grundlage für den zukünftigen Digitalen Zwilling. Es umfasste den Betrieb von zwei Krankenhäusern – dem Cheltenham General Hospital (CGH) und dem Gloucestershire Royal Hospital (GRH) – mit insgesamt 75 Abteilungen und Gebäuden (Standorten).
In diesen Krankenhäusern haben elektive und nicht-elektive Patienten unterschiedliche Verhaltensmuster: Wenn sie in ein Krankenhaus kommen, gehen elektive Patienten meist direkt zu ihren geplanten Operationen; manchmal werden die Operationen auch abgesagt, etwa, weil es keine freien Betten gibt. In diesem Fall verlassen die Patienten die Einrichtung wieder und kehren an einem anderen Tag zurück. Wird eine Operation durchgeführt, dann kommt der Patient entweder auf eine Fachstation oder zunächst in eine Abteilung für Intensivpflege, um später auf der Fachstation versorgt zu werden. Später verlassen auch sie das Krankenhaus.
Das Wegdiagramm für nicht-elektive Patienten ist hingegen komplizierter. Ein Standardweg für die meisten Patienten ist die Triage durch eine Krankenschwester, die den Schweregrad des Zustands eines Patienten einschätzt. Auf der Grundlage dieser Beurteilung wird der Patient zur entsprechenden Behandlung in andere Abteilungen verlegt, kommt bis zur Genesung auf eine Fachstation und/oder verlässt dann das Krankenhaus.
Zudem war das erstellte Krankenhausmodell äußerst individuell und wies mehrere wichtige Merkmale auf:
- Die verschiedenen medizinischen Probleme und die entsprechende Behandlung sind in Fachbereiche unterteilt, z. B. Kardiologie, Dermatologie usw., und jede Station verfügt über ein bestimmtes Spektrum an Spezialisierungen und Behandlungsmöglichkeiten.
- Wenn ein Patient auf einer Station untergebracht werden soll, die ein bestimmtes Fachgebiet behandelt, aber alle Betten dort belegt sind, kann er auf die Krankenstation eines anderen Fachbereichs verlegt werden. Ein Kardiologie-Patient könnte zum Beispiel auf der dermatologischen Station untergebracht werden.
Die Behandlung solcher Patienten dauert länger, weil in einer anderen Abteilung keine Spezialisten zur Verfügung stehen, die sein medizinisches Problem behandeln könnten. Die Minimierung der Anzahl solcher Patienten verbessert folglich das Gesamterlebnis der Patienten. - Krankenhausbetten unterliegen einem Warteschlangensystem – jeder Patient erhält eine Punktzahl, anhand derer die Reihenfolge festgelegt wird. Die höchste Priorität haben darin Patienten, die von der Intensivstation kommen. Ziel ist es, die Wartezeit für die Patienten zu verkürzen, was sich auch auf ihre Zufriedenheit auswirkt.
Interaktive Benutzeroberfläche und Statistiken des Modells
Die Ingenieure von Decision Lab machten sich die Visualisierungsfunktionen von AnyLogic zunutze und gaben dem endgültigen simulationsbasierten Digitalen Zwilling für Krankenhäuser eine benutzerfreundliche Bedienoberfläche. So kann das Programm von jedem Manager genutzt werden, um Einblicke in die Leistung seines Krankenhauses zu erhalten.
Das Modell beinhaltet sowohl die Gesamtergebnisse als auch eine Patienten- und einer Standortansicht. Das Management konnte die Performance-Ergebnisse für jedes Krankenhaus, verschiedene Abteilungen, Ressourcen und einen Gesamtbericht der Warteschlangen einsehen – eine der wichtigsten Kennzahlen, die es zu verfolgen galt.
In der Ansicht „Standorte“ können Anwender vier von 75 möglichen Krankenhausabteilungen und -gebäuden auswählen, darunter Intensivstationen, Herzabteilungen usw., um detaillierte Statistiken für jede dieser Abteilungen zu analysieren. Will ein Benutzer das Verhalten eines einzelnen Patienten analysieren, kann er zur Registerkarte „Patientenansicht“ wechseln.
Ergebnis: Digitaler Zwilling für Krankenhäuser und zukünftige Planung
Die Ergebnisse des Simulationsmodells wurden in drei Kategorien unterteilt:
- Patienten – Zeitdauer, die jeder Patient in einem Krankenhaus regulär oder als „Ausreißerpatient“ (auf einer Station eines anderen Fachbereichs) verbracht hat.
- Stationen – Bettenauslastung und die Anzahl solcher Ausreißerpatienten.
- Notaufnahme – Triagezeit und Krankenbettauslastung in einem bestimmten Bereich.
Dank des Exports als CSV-Dateien konnte das NHS-Analytics-Team die Daten für weitere Analysen in anderen Tools visualisieren.
Nachdem der Digitale Zwilling des Krankenhauses fertig war, stand es der NHS-Leitung für ihre Planungen zur Verfügung, um die Warteschlangen und die Verweildauer zu reduzieren, weitere Messgrößen für die Patientenerfahrung zu verbessern oder den Bau einer neuen Station zu planen. Ferner ließen sich die Kapazitäten der Krankenhäuser während der Nachfragespitzen im Winter einem Stresstest unterziehen, die Auswirkungen der Ressourcennutzung auf die Gesamtleistung ermitteln und vieles mehr.
Zukünftig kann das Entwicklungsteam das Simulationsmodell um detailliertere Personalstatistiken zur Optimierung des Personaleinsatzes, Kostenstatistiken zur Ermittlung der Auswirkungen von Managemententscheidungen, Szenarienvergleichsdiagramme und mehr erweitern.
Die Fallstudie wurde von Peter Riley von Decision Lab auf der AnyLogic Conference 2022 vorgestellt.
Die Präsentation ist als PDF verfügbar.
