Problemstellung
Heute werden etwa 80 % des Welthandelsvolumens auf dem Seeweg transportiert und über ein Netz intermodaler Häfen und Terminals rund um den Globus abgewickelt. Mit der Zunahme des weltumspannenden Warenverkehrs werden intermodale Anlagen umgestaltet, um ihre Kapazitäten zu erweitern und die Nachfrage zu befriedigen. Gleichzeitig ist es jedoch notwendig, die Anlagen sicher und effizient zu betreiben. Deswegen suchen Hafenbetreiber nach Möglichkeiten, Änderungen vor ihrer Implementierung testen zu können.
Das Terminal San Giorgio in Genua, Italien, plante die Umstrukturierung seiner Anlage und Abläufe mit dem Ziel, den Durchsatz zu erhöhen und das Gelände sicherer zu machen. Dazu benötigten sie einen Hafensimulator – einem Digitalen Zwilling des Terminals, der als Testumgebung für die Planung von Containerdepots dienen und dabei helfen sollte, vorherzusagen, wie sich Änderungen auf den laufenden Betrieb auswirken würden.
Simulationsverfahren eignen sich hervorragend für die Erstellung digitaler Abbilder komplexer Umgebungen. Deshalb beauftragte das Management die Experten von MEVB Consulting, einem Schweizer Entwickler von simulationsbasierten Entscheidungsunterstützungssystemen, mit der Durchführung dieses Projekts. Mithilfe einer Containerterminal-Simulation sollten die Auftragnehmer sowohl die physischen als auch die betrieblichen Aktivitäten in einer interaktiven, virtuellen Umgebung abbilden und die dynamischen Arbeitsabläufe detailliert erfassen.
Zur Modellierung des Containerterminals wählten die Ingenieure aus den folgenden Gründen die Simulationssoftware von AnyLogic:
- Es verfügt über eine integrierte Modellierungsbibliothek für die Erstellung komplexer, aber dennoch detaillierter Materialflussmodelle. Die Bibliothek enthält gebrauchsfertige Bausteine zur schnelleren und einfacheren Simulation von Frachtumschlagsvorgängen.
- AnyLogic unterstützt die Erstellung von benutzerdefinierten Modellschnittstellen, was die Modellnutzung auch für diejenigen vereinfacht, die mit AnyLogic nicht vertraut sind.
- Die Software ermöglicht es den Konstrukteuren, Modelle mit KI-Plattformen zu verbinden, um Algorithmen anhand von Simulationsdaten zu trainieren. Die im Training erlernten Richtlinien können schließlich im eigentlichen System oder im Modell eingesetzt werden, sodass diese autonome Entscheidungen treffen können.
- Dank der Cloud-Computing-Funktionen der AnyLogic Cloud und der verteilten Simulationstechnologie lassen sich mehrere Szenarien gleichzeitig ausführen und auf diese Weise komplexe Multi-Run-Experimente schneller und effizienter durchführen als am herkömmlichen Computer.
Lösung
Um den Digitalen Zwilling zu erstellen, mussten die Ingenieure zunächst Informationen darüber sammeln, wie sich Personen, Container und Fahrzeuge im Terminal bewegen. Zu diesem Zweck wurden die Mitarbeiter mit Mobiltelefonen ausgestattet, um ihre Position im Hafenterminal kontinuierlich zu verfolgen. So war es möglich, zu beobachten, wie Personen bestimmte Bereiche betreten oder verlassen und wie sie sich zwischen diesen Zonen bewegen. Für Container und Sattelschlepper stellten sie Positionsbaken zur Verfügung, die deren genauen Standort per GPS an ein internes Ortungssystem übermittelten.

Die Ingenieure nutzten all diese Daten, um einen detailgetreuen Digitalen Zwilling zu erstellen, der mit Informationen aus der Umgebung gefüttert wurde. Insgesamt konnten sie im Hafensimulator die Bewegung von 20.000 miteinander verbundenen Objekten abbilden, darunter Schiffe und Güterzüge. Um die Simulation zu beschleunigen, griffen sie auf die AnyLogic Material Handling Library und die darin enthaltenen gebrauchsfertigen Elemente zurück.
Der letzte Schritt der Modellerstellung bestand darin, das Containerterminal-Simulationsmodell mit Microsoft Project Bonsai zu verbinden. Diese KI-Plattform ermöglichte ein einfacheres Deep Reinforcement Learning auf der Grundlage von Daten aus den Simulationsmodellen. Die Entwickler erhofften sich damit, dass die KI Entscheidungen für die Manager treffen oder zumindest Lösungen vorschlagen würde, indem sie die Simulationsdaten für die verschiedenen Schritte der Frachtabwicklung nutzt.
Test eines Evakuierungsszenarios
Als das Containerterminal-Simulationsmodell erstellt war, wurde das aktuelle Layout und die Betriebsabläufe einem Belastungstest unterzogen. Dazu teilten die Entwickler das Modell in Zonen auf und leiteten in einigen von ihnen mögliche Evakuierungsszenarien ein, wie sie im Falle eines Brandes oder einer Explosion eintreten könnten.
Dann verließen sie sich auf die KI-Fähigkeiten des Modells, um die optimalen Evakuierungswege zu finden. Der Algorithmus analysierte dabei alle möglichen Pfade aus einer Gefahrenzone zu sicheren Bereichen unter Berücksichtigung der Entwicklung des Notfalls und der laufenden Abläufe im Hafen. Um die Simulation zu beschleunigen, wurden verschiedene Szenarien der Notfallentwicklung mit der AnyLogic Cloud ausgeführt. Daraus machte der Algorithmus Vorschläge für optimale Evakuierungsrouten in sichere Gebiete und wies sie jedem Agenten zu.

Anschließend nutzten die Experten die Ergebnisse, um die Evakuierungswege in der Praxis zu testen. Sie simulierten eine gefährliche Situation in einer Zone des Hafens und übermittelten das Signal an das Evakuierungssystem, das mit dem Digitalen Zwilling des Containerterminals verbunden ist. Als Reaktion darauf fand der Digitale Zwilling geeignete Sicherheitsbereiche in der Nähe und übermittelte deren Standorte an das System. Dies wiederum schickte eine telefonische Warnung an die Personen im Evakuierungsgebiet samt einem personalisierten Evakuierungsplan, der sie in die sicheren Bereiche führte.
Gebietsverwaltung mithilfe von KI
Das Containerterminal-Simulationsmodell wurde außerdem zur Verbesserung des Terminaldurchsatzes eingesetzt. Wenn Lkws auf dem Parkbereich ankommen, um einen Container abzuholen oder weiterzuleiten, weisen ihnen die Verantwortlichen eine Parkposition zu. Ihre Entscheidungen beruhen dabei meist auf der aktuellen Situation im Hafen und berücksichtigen dabei keine möglichen Pannen, Lkw-Verzögerungen oder Notsituationen. Dies kann zu einer ineffizienten Nutzung des Parkraums und einem geringeren Durchsatz führen.
Um diese Entscheidungsfindung zu verbessern, simulierten und optimierten die Experten die Ein- und Ausladung von Lkws – Schritte bei der Frachtabfertigung – mithilfe von KI-Funktionen. Verbesserungen in diesem Arbeitsbereich würden dazu beitragen, den Durchsatz des Terminals zu erhöhen, indem die Bearbeitungszeit minimiert und die Abläufe flüssiger gestaltet werden.
Containerterminal-Simulation mit AnyLogic
Die Ingenieure schlugen ferner vor, dass die Künstliche Intelligenz die Zuteilung von Lkws verwaltet und selbstständig simulationsbasierte Entscheidungen treffen könnte. Dank des Digitalen Zwillings des Terminals kann das System auf der Grundlage der gesammelten Daten vorhersagen, wo die Trucks unter Berücksichtigung der geplanten Fracht am besten eingesetzt werden sollten.
Der Durchsatz des Terminals hing dabei in hohem Maße von anderen Terminaloperationen ab, weshalb die Entwickler den aktuellen Digitalen Zwilling um ein Modell des Parkbereichs erweiterten. Insbesondere in dem Modell der Lkw-basierten Logistikoperationen betrachteten die Ingenieure:
- Die durchschnittliche Zeit, die für den Transport von Containern vom Schiff zur Parkposition benötigt wird.
- Die Anzahl der verfügbaren Parkpositionen.
Es dauerte einige Zeit, bis die KI die historischen Daten aus dem Containerterminal-Simulationsmodell und die für die Lkw-Zuteilung implementierten Richtlinien erlernt hatte. Nach dem Anlernen wurde das Modell kontinuierlich mit neuen Daten zu den Ladungen gefüttert, und die KI entschied, wo die ankommenden Lkws platziert werden sollten.
Ergebnisse
Die Ingenieure entwickelten ein System zur Entscheidungsfindung, das ihnen half, eine zuverlässige Evakuierungsstrategie für Notfallsituationen zu entwickeln und die Sicherheit des Terminals zu verbessern. Das System kann bei einer Havarie die Wege aus den Gefahrenzonen in sichere Bereiche im Handumdrehen berechnen und diese an das interne Warnsystem weiterleiten, das wiederum Anweisungen an die Terminalmitarbeiter versendet.
Die Ingenieure zeigten auch, dass KI-Fähigkeiten in Verbindung mit Simulationen den Gesamtdurchsatz des Terminals um 20 % steigern würden. Die lernenden KI-Algorithmen können aggregierte historische Daten dazu nutzen, die Lkw-Zuweisungsstrategien zu verbessern und mehr Erkenntnisse für die Optimierung des Terminaldurchsatzes zu liefern. Im Vergleich zu den Entscheidungen, die die Algorithmen trafen, waren die Entscheidungen der Manager sehr ähnlich. Dies beweist, dass die KI-basierte Entscheidungsfindung später im Terminal implementiert und auf andere Schritte der Frachtverarbeitung übertragen werden kann, um diese weiter zu verbessern.
Projektpräsentation von Roberto Revetria von MEVB auf der AnyLogic Conference 2021:
